Beflügeltes Stummfilm-Kino im Bürgerhaus – Wenn Bild und Ton verschmelzen

Applaus im Kinosaal. Das ist was Besonderes. Aber der Stummfilm mit Flügelbegleitung war auch sehr besonders. Der Applaus wollte nicht enden am Sonntagabend im Bürgerhaus. Die frenetischen Beifallsbekundungen galten Bernd Isermann, der als virtuoser Pianist am Bürgerhaus-Flügel mit schillernden Klangfarben einen berühmten Schwarz-Weiß-Stummfilm zum Leuchten und Sprechen brachte. „Stummfilm bekommt Flügel“: Der Arbeitskreis Kunst-KulturKirche und das katholische Bildungswerk in der St. Georg Pfarrgemeinde hatten zu diesem außergewöhnlichen Kinoerlebnis eingeladen.

Gezeigt wurde der Kultfilm „The Kid – Der Vagabund und das Kind“. Der 1921 gedrehte Streifen ist der erste Langfilm von Charlie Chaplin als Regisseur und gilt noch heute als eines seiner berühmtesten Werke. Der Film beschreibt das Schicksal eines ausgesetzten kleinen Kindes, das von einem Vagabunden (Charlie Chaplin) aufgezogen wird: Ein anrührend-lebensechtes Sozialdrama, verknüpft mit komödiantischen Elementen – ohne Worte, aber mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik. Um die Handlung lebendig werden zu lassen, war es seinerzeit üblich, die laufenden stummen Bilder mit Musik zu unterlegen.

In der Tradition der guten alten Kinoorgel griff Isermann für eine moderne LiveVertonung in die Tasten des Bürgerhaus-Flügels. „The Kid“ mit neuen Tönen: Diese spannende Idee versprach einen seltenen Kunstgenuss und führte zahlreiche Kinound Musikfreunde im Bürgersaal zusammen. Passende Requisiten und Dekorationen bildeten den stimmigen Rahmen des Lichtspielabends.

Also, hinein ins außergewöhnliche Kinovergnügen. Licht aus und Film ab! Während die Handlung im besten Stummfilmmodus über die Leinwand flimmert, rollt Bernd Isermann mit Improvisationen über bekannte Melodiesequenzen meisterhaft einen wunderbaren Klangteppich aus. „Mein kleiner, grüner Kaktus“, „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“, „Der Hölle Rache“, „Auf in den Kampf Torero“ und „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ – die vielfach bekannten Klänge in ganz neuem Kontext nehmen die Emotionen der handelnden Personen in ihren feinen Schwingungen auf und lassen auch die Dynamik der Bewegungen, überraschenden Wendungen, Irrungen, Wirrungen und Auflösungen direkt nachspüren. Sie verstärken Mimik und Gestik der Schauspieler. In Moll und Dur scheinen die Töne mit den Bildern zu verschmelzen. Das Zusammenspiel von Bild und Ton zieht die Konzertbesucher immer mehr in ihren Bann. In absoluter Synchronie legen sich die Töne mal schwer über das Geschehen auf der Leinwand, malend schweben sie leicht mit den beflügelten Tagträumen davon.

„Ein wirklich intensives Erlebnis. Es ist mit Bernd Isermann am Flügel aus dem Charlie-Chaplin-Film und der Musik ein neues Kunstwerk entstanden“, sagt Werner Heckmann vom Arbeitskreis Kunst-Kultur-Kirche und spricht den begeisterten Konzertbesuchern aus der Seele. „Bei einer solchen Filmmusik haben wir die Sprache gar nicht vermisst.“

Und die beste Nachricht: Alle Film- und Musikliebhaber dürfen sich auf eine zweite Auflage des Stummfilmabends freuen. Wenn die Renovierung der großen Kirchenorgel in der St.-Georg-Pfarrkirche, für deren Finanzierung nach dem Konzert fleißig gespendet wurde, abgeschlossen ist, plant Bernd Isermann, „The Kid“ mit Orgelklängen live zu vertonen und ein weiteres musikalisches Kunstwerk zu erschaffen.

Marlies Grüter, WN 19.04.2023